Neue Verordnung der Europäischen Kommission zum Vertriebskartellrecht – die VGVO
Das europäische Kartellrecht verbietet nicht nur Kartellabsprachen zwischen Wettbewerbern, sondern auch wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf verschiedenen Stufen der Produktions- oder Vertriebskette tätig sind. Gegenstand solcher „vertikalen Vereinbarungen“ sind beispielsweise die Vereinbarung von Bezugspflichten, die Zuweisung von Vertriebsgebieten oder sonstige Weiterverkaufsbeschränkungen.
Dass derartige Wettbewerbsbeschränkungen auch positive Effekte haben können, ist allgemein anerkannt. Insbesondere können sie zu einer Reduktion der Vertriebskosten und einer Optimierung von Verkäufen und Investitionen beitragen. Überwiegen diese positiven Effekte die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen, so kann eine vertikale Vereinbarung vom Kartellverbot freigestellt und damit erlaubt sein. Um Unternehmen diese Einzelfallprüfung zu ersparen, gibt es die sogenannte Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung der Europäischen Kommission (VGVO). Welche Änderungen bringt die VGVO für das Vertriebskartellrecht?
Die neue VGVO der Europäischen Kommission
Die VGVO definiert eine umfassende Freistellung für vertikale Beschränkungen und bietet damit einen Safe Harbour für Unternehmen: Hält man sich bei der Gestaltung von Vertriebsverträgen an die Vorgaben der VGVO, so ist man kartellrechtlich sicher und hat keine Geldbußen zu befürchten. Die bisherige Fassung der VGVO stammte aus dem Jahr 2010. Die seither enorm gestiegene Bedeutung des elektronischen Handels und innovativer Vertriebsformen hat aus Sicht der Europäischen Kommission eine Überarbeitung der Verordnung erforderlich gemacht. Am 01.06.2022 ist daher eine neue Fassung der VGVO in Kraft getreten. Begleitend wurden neue Vertikal-Leitlinien (VLL) erlassen.
Die neue VGVO behält die bisherige Grundstruktur bei: Die Gruppenfreistellung ist geknüpft an das Nichtüberschreiten einer Marktanteilsschwelle (30 Prozent auf den relevanten Absatz- und Beschaffungsmärkten) und das Nichtvorliegen sogenannter Kernbeschränkungen. Dies sind besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen, die in der VGVO abschließend aufgezählt sind (auch „schwarze Klauseln“ genannt). Liegt eine Kernbeschränkung vor, so führt dies zum Entfall der Gruppenfreistellung für die gesamte Vereinbarung.
Welche Änderungen das Vertriebskartellrecht bringt, haben unsere EY Law Rechtsexperten im folgenden Artikel für Sie zusammengefasst.
Online-Beschränkungen für Werbung
Detaillierter als zuvor wird in der VGVO auf Beschränkungen bezüglich der Nutzung von Online-Kanälen für Verkauf und Werbung eingegangen. Schon bislang galt, dass gewisse Beschränkungen des elektronischen Handels als schwarze Klauseln anzusehen sind. Dies wurde nun durch eine Erweiterung des Katalogs ausdrücklich klargestellt: Jegliche Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden gilt als Kernbeschränkung. Gleichzeitig wurden andere Beschränkungen des Online-Verkaufs und auch Beschränkungen der Online-Werbung, die nicht die Nutzung eines gesamten Online-Werbekanals verhindern, ausdrücklich freigestellt. Für Hersteller, Importeure und Großhändler ergeben sich damit neue Gestaltungsräume und mehr Rechtssicherheit hinsichtlich möglicher Vorgaben gegenüber ihren Abnehmern.
Als Orientierungshilfe dienen die VLL. Sie enthalten diverse Beispiele für freigestellte Online-Beschränkungen. So darf etwa die Nutzung von Online-Marktplätzen an gewisse Qualitätskriterien geknüpft oder auch gänzlich untersagt werden. Unbedenklich sind auch Anforderungen an die Gestaltung eigener Webshops der Abnehmer, zum Beispiel in Bezug auf die Darstellung von Waren oder Dienstleistungen, die Nutzung von Warenzeichen oder Marken, die präsentiert werden, oder Vorgaben bezüglich des Erscheinungsbildes des Online-Shops.
Unter die neue Kernbeschränkung fällt hingegen etwa das Verbot der Nutzung ganzer Online-Werbekanäle wie Preisvergleichs-Websites oder bezahlte Referenzen in Suchmaschinen. Auch Geoblocking-Vorschriften und das Verbot des Betriebs eines eigenen Webshops führen zum vollständigen Verlust der Gruppenfreistellung.
Dual Pricing im Vertriebskartellrecht
Neu geregelt wurde auch das Thema Dual Pricing durch das Vertriebskartellrecht Update der EU. In Dual-Pricing-Systemen wird der vom Abnehmer zu bezahlende Großhandelspreis davon abhängig gemacht, ob die Produkte online oder offline verkauft werden. Während solche Doppelpreissysteme nach den alten VLL als eine Form der Kernbeschränkung betrachtet wurden, verfolgen die neuen Regeln einen flexibleren Ansatz. So wird anerkannt, dass Dual Pricing Anreize bzw. Belohnungen für ein angemessenes Niveau an Investitionen in Online- oder Offline-Absatzkanäle bieten kann. Doppelpreissysteme gelten daher nicht mehr als Kernbeschränkung, es sei denn, mit der Preisdifferenzierung wird eine Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets bezweckt.
Die neue VGVO und Selektivvertrieb
Verbesserten Schutz bringt die neue VGVO für sogenannte Selektivvertriebssysteme. Dieses Vertriebskonzept zeichnet sich dadurch aus, dass der Lieferant seine Vertragshändler in einem Gebiet anhand qualitativer und/oder quantitativer Kriterien auswählt. Im Gegenzug verpflichten sich die Vertragshändler, die betreffenden Produkte nicht an nicht zugelassene Händler zu verkaufen. Mit dem Selektivvertrieb wird ein geschlossenes System geschaffen, in dem der Lieferant weitreichende Kontrolle über den Verkauf seiner Produkte behält.
Brüchig war dieser Schutz vor Verkäufen durch Unberechtigte nach den alten Regeln des Vertriebskartellrechts aber dann, wenn der Lieferant abseits des Selektivvertriebsgebiets parallel andere Vertriebssysteme verwendete (freier Vertrieb oder Alleinvertrieb). In solchen Konstellationen konnte der Lieferant seinen sonstigen Händlern nicht verbieten, nicht zugelassene Händler im Selektivvertriebsgebiet zu beliefern. Zur Beseitigung dieser Problematik erlauben die neuen Regeln dem Lieferanten nun ausdrücklich, sowohl den aktiven als auch den passiven Verkauf durch seine Abnehmer an nicht zugelassene Händler in einem Selektivvertriebsgebiet zu untersagen. Auch darf der Lieferant von seinen Abnehmern verlangen, dass sie diese Verpflichtung an ihre jeweiligen Kunden weitergeben, sodass die Schutzwirkung auf jede weitere Handelsstufe erstreckt werden kann.
Alleinvertrieb
Bemerkenswert sind auch die Vertriebskartellrecht-Neuerungen in Bezug auf Alleinvertriebssysteme. Im Rahmen des Alleinvertriebs weist der Lieferant ein Gebiet oder eine Kundengruppe einem Abnehmer exklusiv zu oder behält es bzw. sie sich selbst vor. Zur Gewährleistung dieser Exklusivität wird allen anderen Abnehmern der aktive Verkauf in das exklusiv zugewiesene Gebiet oder an die exklusiv zugewiesene Kundengruppe untersagt. Während der Alleinvertrieb schon nach der alten VGVO freigestellt war, wurde diese Freistellung nun auf Systeme mit geteilter Exklusivität erweitert. So darf eine Kundengruppe oder ein Gebiet ab sofort bis zu fünf Abnehmern exklusiv zugewiesen werden.
Außerdem wurde der Schutz der Alleinvertriebshändler vor aktiven Verkäufen von „außen“ verstärkt: Die sonstigen Abnehmer dürfen nun verpflichtet werden, das Verbot aktiver Verkäufe in das Exklusivgebiet bzw. an die Exklusivkundengruppe an ihre direkten Kunden weiterzugeben.
Dualer Vertrieb un Vertriebskartellrecht
Schließlich sei noch auf das Modell des dualen Vertriebs eingegangen, bei dem ein Lieferant die betreffenden Produkte nicht nur über ein Händlernetz, sondern auch selbst direkt vertreibt und somit in Wettbewerb zu seinen Händlern steht. Abweichend vom Grundsatz, dass die Gruppenfreistellung der VGVO nicht für Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern gilt, wird der duale Vertrieb doch in den Anwendungsbereich der VGVO einbezogen.
Bislang galt dies nur für Vereinbarungen zwischen einem Lieferanten, der zugleich Hersteller und Händler ist, und einem Händler, der nicht auf der Herstelungsebene tätig ist. Um der im elektronischen Handel enorm gestiegenen praktischen Bedeutung des dualen Vertriebs gerecht zu werden, wurde die vormals enge Ausnahme nunmehr flexibler gestaltet. Sie ermöglicht fortan eine Gruppenfreistellung auch für Vereinbarungen etwa zwischen einem Hersteller und einem Importeur oder zwischen einem Importeur und einem Großhändler.
Gleichzeitig wurde aber auch eine Einschränkung betreffend Online-Plattformen vorgenommen. So gilt die Freistellung des dualen Vertriebs ausdrücklich nicht für die Bereitstellung von Online-Vermittlungsdiensten, wenn der Plattformanbieter auch Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb mit jenen Unternehmen verkauft, für die er die Vermittlungsdienste erbringt.
Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten
Neben den beschriebenen Veränderungen im Vertriebskartellrecht bringen die VGVO und die VLL zahlreiche weitere Neuerungen und Klarstellungen. Unternehmen haben ihre bestehenden Liefer- und Vertriebsvereinbarungen auf Vereinbarkeit mit den neuen Regeln zu überprüfen und erforderlichenfalls anzupassen. Die VGVO räumt dafür eine Übergangsfrist bis zum 31.05.2023 ein. Bis dahin bleiben bestehende Vereinbarungen, die die Anforderungen der alten VGVO erfüllen, freigestellt. Für neu abzuschließende vertikale Vereinbarungen sind hingegen bereits seit 01.06.2022 die neuen Regeln zu beachten.
Eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit den Neuerungen der VGVO schützt nicht nur vor kartellrechtlichen Geldbußen; sie kann auch helfen, den Vertrieb effizienter zu gestalten, indem neu geschaffene Spielräume — etwa in Bezug auf nun zulässige Beschränkungen des Online-Handels — erkannt und genützt werden. Kontaktieren Sie unsere Rechtsanwälte bei Fragen zu den Neuerungen im Vertriebskartellrecht!
Dieser Beitrag zum Vertriebskartellrecht ist im aktuellen EY Tax & Law Magazin erschienen, das Sie hier kostenlos als PDF downloaden können.
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